Simone schreibt Prosa
Kurz- und kürzest-Geschichten haben es Simone angetan. Sie liebt es, spontane Einfälle oder Kuriositäten des Alltags, Unrealistisches, Magisches in eines ihrer gefühlt siebenhundertzwölf Notizbücher zu kritzeln und später auszugestalten.
Ein kleines Cafe´ auf dem Marktplatz einer Kleinstadt. Es ist früher Nachmittag. Es regnet in Strömen. Ein Mann mittleren Alters betritt das Cafe´, streicht sich die Kapuze vom Kopf, schüttelt die braunen Locken und schrubbt die Schuhsohlen über die Schmutzfangmatte. Er schaut sich suchend im Raum um und geht schließlich zielstrebig auf den einzigen freien Platz zu. Dort sitzt eine junge Frau an einem winzigen Tisch am Fenster, ein Buch in den Händen. Vor ihr steht eine Teetasse. Der Mann bleibt dicht vor ihr stehen und zeigt fragend auf den Stuhl ihr gegenüber.
Sie blickt irritiert auf, macht eine einladende Geste und zieht ihre Tasse näher zu sich her.
Er bedankt sich mit einem kurzen Nicken und setzt sich. Als der Kellner kommt, deutet er wortlos auf eine Stelle auf der Speisekarte. Auf die Rückfrage des Kellners hin hebt er den Daumen nach oben.
Sie beobachtet ihn unauffällig über den Rand ihres Buches hinweg, hinter welches sie sich verschanzt hat. Als sie merkt, dass er zu ihr hinübersieht, senkt sie schnell den Blick auf die Zeilen vor sich.
Er lächelt belustigt und nimmt sein Handy aus der Tasche. Stetig wandert sein Blick zu ihr.
Sie tastet nach ihrer Tasse, ohne aufzublicken. Ihr Zeigefinger fährt auf dem Henkel auf und ab.
Er beobachtet dies aufmerksam.
Als sie das Buch senkt und die Tasse zum Mund führt, schaut er ruckartig weg.
Sie nippt an ihrem Tee und stellt die Tasse wieder sacht auf dem Unterteller ab.
Er schaut sie über den Rand seines Handys hinweg an und bemerkt, dass ihre Tasse fast leer ist.
Er hebt eine Augenbraue, deutet auf ihre Tasse und legt mit fragendem Blick den Kopf schräg. Dann zeigt er auf den Kellner.
Sie lächelt, nickt und legt das Buch in ihren Schoß.
Beide lassen ihre Blicke schweifen. Er hält sich an seinem Handy fest, sie an ihrem Buch.
Er winkt dem Kellner, hebt zwei Finger und deutet auf ihre Tasse.
Der Kellner serviert das Gewünschte auf einem Tablett.
Sie steckt das Buch in ihre Tasche, nimmt dem Kellner eine Tasse ab und lässt den Teebeutel hinein gleiten.
Er legt das Handy weg und macht es ihr nach.
Beide schauen in ihre Tassen, die sie mit ihren Händen umfassen.
Schließlich blickt er auf und prostet ihr leicht zu.
Sie erwidert die Geste lächelnd.
Beide pusten vorsichtig in ihre Tassen und trinken in kleinen Schlucken.
Er zieht sein Handy zu sich und tippt etwas ein, legt den Kopf schräg, zuckt mit den Schultern und schiebt es ihr mit einer schnellen Bewegung über den Tisch.
Sie blickt erstaunt, lacht lautlos und reckt den Hals, um das Display besser sehen zu können. Während sie liest, wird ihr Lächeln breiter.
Sie holt einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, nimmt die Serviette, schaut ihn schmunzelnd an und schreibt die Nummer ab, die auf dem Display steht.
Er nimmt das Handy entgegen, das sie zurückschiebt, holt ebenfalls eine Serviette aus dem Ständer und kritzelt etwas darauf: Danke! Für die Zeit mit dir! Dann lehnt er sich zurück, schaut über den Rand seiner Teetasse hinaus in den Regen und erinnert sich an ihre erste Begegnung. Hier. Vor genau fünf Jahren.
„Oh, was höre ich denn da?“ Meine Augen sind altersschwach aber meine Ohren so gut wie die einer Fledermaus. Geschärft durch die vielen Jahre allein im Wald.
Na, da wollen wir mal sehen, wer sich so dicht herantraut!
Ich lauere hinter der halb geschlossenen Tür. Es könnte ein gefährliches, wildes Tier sein.
Aber nein! Ich schnuppere. Welch herrlicher Duft! Meine Nasenflügel beben vor Erregung. Diese Köstlichkeit habe ich schon so lange nicht mehr gerochen: Kinderschweiß! Ganz eindeutig! Es riecht nach ungewaschenen, verschwitzten, ängstlichen Kindern. Salzig und süß zugleich. Ich lausche den zaghaften Schritten, dem leisen Knacken von Ästen, dem Knirschen von Kies. Aufs Äußerste gespannt, wie ein Zittern in der Luft.
Aha! Angebissen! Freue ich mich. Im wahrsten Sinne des Wortes! Ich kichere lautlos in mich hinein und lausche dem Schmatzen und Knabbern. Schon immer hat das funktioniert, jubele ich innerlich und reibe mir die Hände. Die Süße des gebrannten Zuckers, die Wände aus Zimtkeksen, die Ziegel aus Schokowürfeln: wie das duftet! Weit in den Wald ringsum.
Zeit für meinen Auftritt, sporne ich mich an.
Die Tür knarzt, als ich sie langsam aufdrücke.
Ich krümme den Rücken, lasse die Schultern hängen, verstelle die Stimme und hatsche schlurfend auf die Veranda.
„Knusper, knusper, Knäuschen,“ säusele ich. „Wer knuspert an meinem Häuschen!“.
Ich verbeiße mir ein Grinsen und genieße die schreckverzerrten Mienen von einem Mädchen mit langen blonden Zöpfen und einem Jungen mit braunem Haar. Beide eher in Lumpen, denn in Kleider gewandet. Barfuß und schmutzig.
„Lasst euch nicht stören, esst ruhig weiter!“, fordere ich sie auf und bemühe mich um ein freundliches Lächeln. „Nehmt was ihr möchtet, probiert von allen Leckereien! Die sind von mir selbst gemacht- für so liebe Kinderlein wie ihr es seid.“ Ich nicke auffordernd.
Das Mädchen zögert, bricht aber vorsichtig ein kleines Stück Fensterladen aus Honigbrot ab. Der Junge langt kräftig zu. Gierig beißt er abwechselnd in einen Dachziegel aus Spekulatius und in eine Marzipanblume.
Not macht unvorsichtig, denke ich mir. Dumme, kleine Kinder allein im Wald. Woher sie wohl kommen?
„Habt ihr euch verlaufen, ihr lieben Kleinen?“, zwitschere ich. „Wie gut, dass ihr zu mir gekommen seid! Der Wald ist gefährlich! Euch könnte Schlimmes widerfahren.“
Der Blick des Mädchens huscht angstvoll hin und her. Der Junge hört gar nicht zu und stopft sich den Mund voll.
„Nun kommt erstmal herein,“ lade ich sie ein. Meine Stimme klingt so lieblich wie der Honig meiner Bienen hinterm Haus. Als ich die Tür vollständig öffne, weht ein köstlicher Duft nach frischem Milchreis mit warmen Apfelmus nach draußen und umschlingt die Kinder wie ein unsichtbares Netz, das sie nach drinnen zieht. Ich gebe ihnen Brei zu essen und Tee zu trinken. Dass sie sehr müde sind, ist nicht zu übersehen. Ich bette sie auf Decken und Fellen nahe dem Ofen und lausche schon bald dem gleichmäßigen Atmen. Mitten in der Nacht hole ich mir den Jungen. Ich presse eine Hand auf seinen Mund und hebe die Gestalt hoch, die nicht mehr wiegt als ein kleiner Sack Mehl.
Ich sperre ihn in den alten Hundezwinger. „Hör zu, Junge,“ raune ich ihm zu. „Du bist so dürr wie ein Hühnerknochen! Du wirst reichlich essen, was ich dir gebe! Und wenn du dick und fett bist, gibst du ein leckeres Festmahl zur Walpurgisnacht!“ Ich sperre den Verschlag ab und stecke den Schlüssel in meine Schürze.
Täglich taste ich in den folgenden Tagen seinen Finger ab, den er mir herausstrecken muss, wenn ich ihm Essen bringe. Warum nur, nimmt der nicht zu? Ich ärgerte mich über meine alten Augen, die es mir versagen, den kleinen Kerl in dem dunklen Schuppen genauer zu betrachten. Ich knurre. Zum Fest der Hexen muss er viel dicker sein!
Bis der Stand des Mondes endlich die Nacht auf dem Blocksberg anzeigt, hat das Mädchen brav gearbeitet. Es hat mein Haus gefegt, die Spinnweben beseitigt, den Boden gewischt, die Terrasse geschrubbt und die Fenster geputzt. Und den Ofen entrußt. Heute endlich habe ich seit dem frühen Morgen darin ein kräftiges Feuer entfacht. Ein gutes Feuer braucht Geduld.
„Mädchen!“, befehle ich. „Leg Holz nach! Heute gibt es ein Festmahl.“
Das Mädchen erstarrt erst und zittert sodann wie ein dürres Blatt im Wind. „Ich …,“ stammelt es „… weiß nicht, wie das geht!“ Sie weicht vor mir zurück. Mit bebender Stimme schluchzt sie: „Könnt ihr es mir nicht zeigen. Dann will ich es euch nachmachen, liebe Hexe!“
„Liebe Hexe…“, spotte ich. „Was bist du für ein dummes Ding! Geh beiseite!“ Die Hitze lodert mir entgegen, als ich die Ofentür weit öffne. Ich kann das gebratene Fleisch schon auf der Zunge schmecken, das bald darauf geröstet wird! Was werden die anderen Hexen sagen, wenn ich eine solche Leckerei mitbringe? Ich nehme ein schweres, knorriges Holzstück nach dem anderen und werfe es in die sengende Glut. Tief blicke ich hinein ins Feuer, in mein Elixier. Ich berausche mich an den lodernden Zungen, dem diabolischen Tanz dieser infernalischen Macht! Bald wird es herrlich nach jungem Menschenfleisch duften.
Doch da: RUMMS! Ein Stoß. Ein plötzlicher, unerwartet heftiger Tritt in meinen Rücken. Kopfüber plumpse ich in den teuflischen Feuerkessel. „Ahhhhhh!“ Ich höre einen Schrei. Es ist mein eigener! Flammen lecken gierig an meinem Kleid. Gelb-orange-rot flackert der beißende Schein um mich herum. Mein Körper bäumt sich auf. Nicht aus Schmerz, sondern aus Zorn! Dieses verwunschene Miststück! Ich hätte SIE hineinstoßen sollen! Es knistert und knackt, ohrenbetäubend laut wie beim Ritt der Hexen. Luft fächelt wild durch die Feuersbrunst, die sich aufbäumt, Flammen aufschießen lässt und dann- ein Schlag, ein Klicken der Ofentür. Kein Luftzug mehr. Nur ein Jubelschrei von weit weg.
Die Haustür fällt ins Schloss. Meine Dienstherrin flötet: „Bello, komm schnell! Schau mal!“ Oh, dieser Satz verheißt nichts Gutes! Das hat mich die Erfahrung gelehrt.
Ich rolle mich zusammen. Ich bin nicht zu sprechen! Ich stecke die Schnauze zwischen die Pfoten.
Wahrscheinlich hat sie wieder so ein kindisches Hundespielzeug gekauft und ich muss jetzt zu tun, als ob ich hoch erfreut wäre! Entwürdigend!
Damals, im Polizeidienst, hab ich mit Beißkissen trainiert!
„Ja wo ist denn mein liebes Hündchen?“, schrillt es durch den Hausflur. Hündchen: Wie ich das hasse!
KLACKER, KLACKER! STÖCKEL! STÖCKEL!
Moment! Mein Verstand ist auf Hab Acht! Ich hebe irritiert den Kopf. Sie hat die Schuhe nicht ausgezogen! Da stimmt was nicht!
„Schau mal, wen ich mitgebracht habe!“ Diese Frage schärft meine Sinne auf Höchste. MITGEBRACHT?
Meine Tasthaare zittern und meine Ohren bewegen sich wie feinjustierte Radarantennen.
Moment! Was riecht da so befremdlich? Alarmiert erhebe ich mich. Was dringt penetrant durch die Parfümwolke der Frau des Hauses in meine sensible, hochausgebildete Nase? Zielgeruch erkannt: KATZE! Ich bin trainiert auf Drogen, Sprengstoff und Ärger! Und das riecht nach dem Letzen!
Sie stellt eine rosafarbene Transportbox vier Pfotenlängen vor mir aufs Parkett.
„Schau mal, du kleines, niedliches Kätzchen: das ist der liebe, alte Bello!“
ALT? Hat sie im Ernst alt gesagt? Ich weiß nicht, was mich mehr erschüttert: diese absonderliche Beleidigung oder der Inhalt dieses Plastikkäfigs. Alt! Ich bin wohlgedient, weise, erfahren!
„Na, jetzt schau dir doch mal diese kleine Zuckerschnute an, du alter Griesgram!“, fordert sie mich auf.
„Das ist Püppi, und Sie wohnt ab jetzt bei uns!“
Ein ununterdrückbares Knurren entkommt meiner Kehle. So tief wie Donnergrollen in einer Felsenschlucht! Gefährlich! Furchteinflößend!
„Hab dich nicht so!“, scheltet sie mich.
Erbärmlich ist das! Unwürdig! Niemals hätte ich ihr diese Niedertracht zugetraut! Meinen wohlverdienten Ruhestand derart zu sabotieren! Eine Katze im Haus! Wenn die anderen das erfahren! Peinlich!
„Mau!“, vernehme ich da eine zarte Meldung jenseits der Plastikstäbe. „´Tschuldigung! Das war nicht meine Idee! Ich wollte dich nicht stören! Aber nett, dich kennenzulernen! Du bist aber groß! Bitte, tu mir nichts!“
„Aha! Eine Quasselstrippe also auch noch! Das wird ja immer schöner!“
KLACK, KLACK! Die Herrin lässt die Verschlüsse der Box aufschnappen und hebt das Oberteil ab.
Meine Lefzen beben. Die traut sich was!
Und da erblicken meine trüben Augen etwas Bezauberndes: Eine Schönheit! Eine Glückskatze: braune, schwarze und orange Tupfen. Samtige Pfoten. Grünbraune Augen, wie ein Waldsee bei Sonnenuntergang. Sie blicken verängstigt zu mir auf. Ein flauschiger Gefühlsangriff! Ein zartes „Miau!“ trifft mein hartes Herz. Und es schmilzt. In diesem einen Augenblick.
„Schau mal, ist der nicht wunderschön?“, flötet Sandy und streckt ihren Finger mit dem Verlobungsring über den Bistrotisch.
Ich räuspere mich: „Der ist … ganz bezaubernd!“, uUnd stürze den Sekt hinunter.
„Marc, ist ein echter Traummann!“, schwärmt Sandy und blickt sehnsuchtsvoll in die Ferne. Unangenehme Stille rauscht in meinen Ohren. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her.
„He, möchtest du heute Abend mit uns essen? Marc hat mich in dieses chice neue Restaurant am Hafen eingeladen. Und einige seiner Freunde. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn du mitkommst.“ Ihre Stimme überschlägt sich beinahe vor Begeisterung. Als sie meinen kritischen Blick sieht, fügt sie hinzu: „Du kannst auch jemanden mitnehmen. Da hat er sicher nichts dagegen. Er ist ja so großzügig!“ Sie spielt mit dem schweren Klunker auf dem zierlichen Goldreif. Ihre falschen Wimpern bewegen sich wie Libellenflügel, als sie verzückt das Schmuckstück betrachtet.
Du musst es ihr sagen! Eine innere Stimme warnt mich seit Tagen. In Dauerschleife. Wie kann man nur so naiv sein? Fragt ein anderer Teil von mir wieder und wieder. Ich taste mich vor. „Wann, sagte er, soll die Hochzeit sein?“ Ich senke meinen Blick in die Kaffeetasse, um sie nicht anschauen zu müssen.
„Oh, das hängt ganz von seiner Auftragslage ab!“ Sie wiegt ihren Kopf bedächtig hin und her. „Er ist ja so beschäftigt. Gestern Abend ist er erst aus Nairobi zurückgekommen. Und nächste Woche muss er schon wieder nach Bangkok.“
Ah, so nennt man also die Schlafzimmer von Susann und Shirin! Wie lange halte ich schon die Klappe? Aber als er mich neulich vor allen anderen absolut unverfroren angegraben hat, da war es aus! So ein hinterhältiges Schwein! Ich gebe mir einen Ruck und zwinge mich, in Sandys perfekt geschminktes Gesicht zu sehen. Ein zartes Lächeln spielt auf ihren permamentroten Lippen, ihr Blick aufs Wasser gerichtet. Ich hole tief Luft. Du wirst jetzt gleich einen Lebenstraum zerstören! Kreischt es in meinem Kopf! Lass es jemand anderes tun. Es wissen doch ALLE Bescheid!
Was wiegt schwerer, fragt die erste Stimme: eine Lüge, ein Betrug oder das Verschweigen von Tatsachen?
„Sandy“, setze ich an. Ich nehme einen Schluck Wasser. Und verschlucke mich prompt derart, dass ich einen Hustenanfall bekomme. Ich springe auf und lehne mich übers Geländer.
„Rebekka?“, erkundigt sich Sandy erschrocken und kommt zu mir. Zart wie ein Schmetterling liegt ihre Hand mit diesem schrecklichen Ring auf meiner Schulter. Ich weiß, dass an dieser Hand dieser schreckliche Ring steckt. Vielleicht brennt er mir ein Loch in die Seele?!
„Geht´s wieder?“. Ich atme ihr Parfüm. Rein und unschuldig wie Lavendel. Tränen verschleiern meinen Blick. Gut, dass sie annimmt, es kommt von der Husterei.
„Ist alles gut bei dir, Liebes?“ Ihre Stimme ist aufrichtig besorgt, als ihr warmer Blick mein Gesicht absucht. „Irgendwas stimmt doch nicht!“
„Ja, du Süße!“, antworte ich mit kratziger Stimme. „Etwas stimmt ganz und gar nicht!“
Mara schreckte von ihrem Lager hoch. Am ganzen Körper hatten sich die Härchen auf ihrer dunklen Haut aufgestellt. Gefahr! schrie ihr Kopf. Sie blinzelte in die Nacht. Durch die Zeltwand sah sie die Umrisse des Feuers flackern. Die Schatten von Blättern und Büschen wiegten sich im Wind. Es war stürmischer geworden. Ein gutes Zeichen! Gestern bat sie den Regengott noch um das rettende Nass. Sie fröstelte und zog die Tierfelldecke enger um sich. Wieder lauschte sie mit geschlossenen Augen. Bildete sie sich nur ein, dass etwas nicht stimmte? Sie lauschte und schnüffelte. Im Zelt duftete es nach den Kräuterbüscheln, die von der Decke hingen und dem kalten Rauch aus ihren Ritualgefäßen.
Nein, da war es wieder! Sie riss die Augen auf als sie bemerkte, was sie alarmierte: ein ganz bestimmter animalischer Geruch. Der Geruch des Todes! Irgendwo da draußen lauerte eine todbringende Gefahr in Form eines wilden Tieres. Was war das?
Die Zeltwand bot keinerlei Schutz und wenn der Regen einsetzen würde, wäre auch das große Feuer erloschen, das die Siedlung einigermaßen vor wilden Tieren bewahrte. Noch konnte sie nur am Geruch erahnen, dass sie alle in Lebensgefahr schwebten. Ahnungslos im Schlaf ausgeliefert den wirklichen Herrscher des Urwalds.
„Arman! Matra omen!“ betete sie und schloss die Finger der rechten Hand fest um den Talisman an ihrem Hals. Lautlos stand die Jägerin auf und zupfte ihr Lederkleid zurecht. Sie tastete nach Pfeil und Bogen, die griffbereit neben der Pritsche aus Lehm, Tüchern und Fellen lagen. Barfuß schlich sie zum Zeltausgang. Lauschend, schnuppert. Da! Ein leises Grollen! War es der Regen, der sich ankündigte oder ein Tierlaut? Sie schlüpfte hinaus.
Hochkonzentriert taxierte sie die Szene: zwei junge Krieger lümmelten unaufmerksam am Feuer. „Ihuhuhuu!“, ahmte sie den Ruf eines nach Vogels nach. Auf der Stelle durchzuckte eine Bewegung die beiden Wachen und sie schauten sich alarmiert um.
„Ihuhuhuu!“, wiederholte Mara und atmete erleichtert aus, als die zwei endlich in ihre Richtung blickten. Mit uralten, lautlosen Gesten überbrachte sie ihnen die lebenswichtige Information: Das Dorf ist in Gefahr! Die Krieger ergriffen ihre Sperre und während sie sich erhoben, wurden ihre dunklen bemalten Körper eins mit den nächtlichen Schatten. Die drei funktionierten jetzt wie ein Schwarm, wie ein Ganzes. Sie teilten sich auf, behielten sich aber in ihren Empfindungen. Hochsensibel reagierten ihre Sinne auf die Sprache des Regenwaldes. Mara duckte sich. Ein kaum vernehmbares Tappen rechts von ihr und wieder dieser Geruch! Stärker jetzt, herb, tierisch und gefährlich!
Die junge Heilerin wirbelte herum und zog im gleichen Moment den Pfeil auf der straff gespannten Sehne. Ihr Pfeil zischte durch die Finsternis, als im selben Moment ein mächtiger Körper, eine schemenhafte Masse, auf sie zuflog. Pfeil und Bogen an sich gepresst hechtete sie in die Büsche. Ungeachtet der Dornen und der giftigen Früchte, die ihre Haut verbrannten, kaum dass sie in Kontakt kam. Mit einem abscheulichen Fauchen landete die Bestie elegant auf den Vorderläufen und galoppierte ungebremst auf den Dorfplatz zu. Das große Feuer schien sie nicht zu beeindrucken. Im flackernden Licht erkannte Mara einen Berg hellen Felles, einen langen Schweif und kraftvolle Hinterläufe.
Sie wusste, was nun von ihr erwartet wurde und sie war bereit dazu: Ihr Leben zu opfern. Sie musste das Tier auf sich aufmerksam machen, um es von den Dorfbewohnern wegzulocken. Von den Kindern und den Alten, den Wehrlosen und den Unvorbereiteten.
Wieder nahm sie einen Pfeil aus ihrem Köcher. Die Muskeln ihre Arme waren gestählt. Sie zögerte nur einen Moment dann sauste der Pfeil in die Richtung des Tieres. Zssssing!
WOAAAR! Ein erschütternder Schrei zerriss die nächtliche Stille. Fauchen, Zappeln, Aufbäumen! Wieder ein markerschütternder Schrei und dann: Stille! Absolute Stille!
Zwei dunkle Schatten huschten in ihre Nähe. Mit hocherhobenen Speeren schritten sie der Bestie entgegen. Diese zuckte ein letztes Mal, warf sich zur Seite, bäumte sich auf, grunzte, stöhnte. Und erschlaffte. Die Gefahr war vorüber! Für dieses Mal.
Ich hüpfe die Kellertreppe runter. Boah, so tolle Johannisbeeren. So viele! Groß, wie dicke rote Perlen. Es ist viel mehr Gelee geworden, als ich dachte. Also muss ich auch noch die großen Gläser nehmen. Beeilung! Oben brodelt der Thermomix. Ich packe alles auf ein Tablett: weiterer Gelierzucker und diverse Schraubdeckelgläser.
Abrupt stoppt mein geschäftiges Tun. Behutsam, ja zärtlich, fahren meine Fingerspitzen über ein Papieretikett. Nur noch schwach lesbar. An den Rändern abgefieselt, hat es der Spülmaschine Stand gehalten.
Deine Schrift! Deine Hand!
Quittengelee 2022. Dein letzter Sommer.
Es war mir einfach rausgerutscht in dem Moment, in dem mich sein Anruf so fuchsteufelswild gemacht hatte. Da wollte ich es wissen. Unbedingt. Endlich: War SIE bei ihm? Waren seine Überstunden nichts als Lügen? Was taten sie, wenn sie zusammen waren? Redeten sie über mich? Lachten sie am Ende über mich? Und deshalb sagte ich den einen fatalen Satz, der alles veränderte: Ich wünschte, ich wäre unsichtbar!
Es war ein Schock, eine Panik auslösende, irrationale, wahnsinnige Situation: ich begriff, dass etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht stimmte, als ich mich an der Küchenwand abstützen wollte und einfach hindurchgriff. Wie durch Wasserdampf. Als ich, außer mir vor Zorn, gegen den Schrank trat und mein Fuß hindurchglitt, wie durch lockeren Schnee. Als ich mich nicht im Glas des Backofens spiegelte, wich das Grauen einer euphorischen Faszination. Genau das hatte ich doch gewollt! Nun konnte ich ihm überallhin folgen, ihn beobachten, sein böses Spiel endlich aufdecken! Er sagte, er wäre noch beim Arbeiten. Also lief die kurze Strecke zu seinem Büro. Elektrisiert erahnte ich das Ausmaß meiner Verwandlung, als ich schnurstracks durch eine Laterne ging und ungehindert eine Hecke durchquerte. Niemand nahm Notiz von mir. Vor der Glastür des Bürohauses machte ich nicht Halt. Ich ging einfach hindurch. Ich huschte zu weiteren Personen in den Aufzug, ohne dass sie mich bemerkten. Als sie mich unwissentlich berührten, fühlte ich nur ein leichtes Prickeln. Hinter seiner Bürotür hörte ich Stimmen. Seine hätte ich unter Tausenden erkannt, ihre hörte ich zum ersten Mal. Hatte ich es doch gewusst! Dieses Luder! Sie war bei ihm! Was immer sie taten: ich konnte unerkannt dabei sein!
Ein wohlig-schauriges Gefühl durchfuhr meinen ganzen Körper und ich trat durch die geschlossene Tür.
„Ich vermisse sie so sehr! Die Frau, die ich kennengelernt habe!“ Seine Worte stoppten meinen wilden Lauf binnen einer Sekunde. „Ich versuche doch, sie glücklich zu machen.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme schnitt mir ins Herz.
„Für wen mach ich denn die ganzen Überstunden?“ Er seufzte tief. In seiner Stimme war keine Anklage, nur pechschwarze Resignation. „Ich möchte ihr jeden Wunsch erfüllen. Ich möchte sie mit dem nächsten Urlaub überraschen. Nur sie und ich. Drei ganze Wochen lang!“
Stromstöße ließen meinen Körper erzittern. Obwohl sie mein Atmen nicht hören konnten, hielt ich die Luft an.
„Ich liebe sie. Obwohl das Leben mit ihr immer schwieriger geworden ist. Hätte ich mich dir nicht stets anvertrauen dürfen …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich wäre schon gegangen“, fügte er leise hinzu und lächelte gequält. „Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte und ob mein Bemühen ausreicht!“
Instinktiv lief ich zu ihm. Ich wollte seinen gesenkten Kopf in meine Hände nehmen, seinen Blick heben. In seine traurigen Augen sehen. Aber ich griff hindurch.
„Sie macht vielleicht eine schwierige Zeit durch“, sprach SIE weiter. Verständnisvoll, warm, fürsorglich. Ich starrte sie an. Ich sah kein hinterhältiges Monster, keine falsche Schlange, kein Vamp. Ich sah eine nette Frau mit warmen Augen. „Sei geduldig! Wirf das nicht weg! Sprecht miteinander,“ forderte sie ihn auf.
Es traf mich wie ein Keulenhieb: miteinander sprechen? Wir werden womöglich NIE WIEDER miteinander sprechen können! Ich sank vor ihm auf die Knie.
„Sie war vorhin am Telefon so wütend“, schluchzte er. „Ich mach mir solche Sorgen.“
Ich roch seinen ganz eigenen Duft und wollte mich in seine Arme kuscheln. Ich wollte ihm sagen, wie unendlich leid es mir tat. Ich wollte ihn bitten mir zu verzeihen. Einmal noch. Ich hatte mich verrannt. Mal wieder. Aber ich konnte nichts erklären. Ich hatte keine Stimme mehr. Er spürte meinen Kopf nicht, den ich auf seine Knie sinken ließ. Er sah die Spuren meiner Tränen nicht, die auf seine Hose tropften. Wie auf einem Zeitstrahl schoss ich rückwärts zum Beginn unserer Beziehung. Jede Sekunde mit ihm war mir heilig. Jede gemeinsame Stunde ein Geschenk. Gibt es ein Zurück für mich? Wird es ein UNS in der Zukunft geben? Ist es zu spät, kann ich irgendwann zurückkehren? Wie lange wird er warten, wenn er nicht fühlen kann, dass ich neben ihm an unserem Tisch sitze? Dass ich neben ihm im Bett liege? Wenn er nicht hört, dass ich ihm sage, dass ich ihn so sehr liebe. Dass ich deswegen so hysterische Angst hatte, ihn zu verlieren. Habe ich ihn bereits verloren? Wegen eines unverzeihlichen Fehlers? Wegen einem törichten Wunsch? Was bringt es mir nun, alles heimlich zu sehen und zu hören? Wie viel Wahrheit kann ich ertragen? Bitte, bitte: nur raus aus diesem Alptraum!
„Antonio! Antonio!“ Immer wieder rief ich seinen Namen. Ich sprang auf, trat gegen einen Stuhl, wollte ihn umwerfen, auf mich aufmerksam machen. Aber mein Fuß glitt hindurch wie durch eine Nebelwand. Ich weinte, ich tobte, ich schrie. Sie redeten weiter. Ich war nicht da.
„Was gäbe ich drum …,“ seine raue Stimme war nur mehr ein Flüstern. Das war UNSER Satzanfang. UNSER Ritual. Früher hatten wir uns damit beschrieben, was wir uns wünschten.
Ich sackte zusammen.
„Was gäbe ich drum“, schluchzte ich unhörbar, „wenn ich bei dir sein könnte! Morgens zu sehen, wie du die Augen aufblinzelst, dir vor dem Einschlafen sagen zu können, wie dankbar ich bin.“
„Was gäbe ich drum“, wiederholte er, „wenn sie jetzt bei mir wäre und ich ihr sagen könnte, dass ich sie einfach nur glücklich machen möchte.“
Zwei zwielichtige Gesellen hockten auf einem hölzernen Karren, der von einem altersschwachen Klepper gezogen wurde. Rumpelnd holperten sie durch den steinernen Torbogen hinaus aus der Stadt. Hinter ihnen gab es eine ohrenbetäubende Explosion. Sie überquerten gerade die Zugbrücke, als das Gebälk der Bibliothek der Schlafenden Bücher in sich zusammenbrach. Ein jahrtausendealter Eichenbalken krachte ins Dach der Schenke und ließ das Pflaster erzittern. Markerschütternde Schreie, ob menschlich oder animalisch, war nicht mehr zu unterscheiden im Scheppern und Bersten rundum. Lodernde Fackeln auf Beinen rannten um ihr Leben. Schreckverzerrte Mienen waren zu Fratzen entstellt. Ein falscher Schritt entschied zwischen dem Entkommen aus dieser Hölle oder dem Lauf mitten hinein!
Mit unstillbarer Gier leckte die Feuersbrunst, die sich wie ein grausamer Drache durch die Stadt schlängelte, an Fassaden und Scheunen, an Brücken und Gärten, an Plätzen und Türmen. Überall fand sie Holz und Stroh, das die züngelnden Flammen auflodern ließ, um kurz darauf in glühende Asche zu zerfallen. Als es das Viertel der Lederer erreichte, zog ein widerlicher Gestank durch die Gassen, der sich wie ein Geist aus der Flasche hoch über die Dächer erhob. Husten und Keuchen, Ächzen und Stöhnen der Flüchtenden, Verletzten, Sterbenden. Todbringende Geräusche, die im Krawall des großen Massakers untergingen.
„Weg da!“, eine Warnung versuchte sich Gehör zu verschaffen. „Um Madras Willen, WEG DA!“ Das heisere Brüllen irritierte die Rennenden, die jetzt erst recht wie Hasen zwischen den Häusern hin- und herhuschten.
„Die Giftschmiede brennt!“ Die Verzweiflung ließ den Alchimisten noch lauter schreien.
„Rennt um euer Leben!“ Als ob sie das nicht schon täten! Aber wohin nur? Zu spät! Mit einem Donnerschlag flogen Sparren und Glassplitter hoch durch die Luft und bohrten sich Meilen weiter glühend in Gebäude, Mensch und Tier. Wahllos. Gnadenlos. Grün und Gelb, Violett und Blau züngelten die Flammen höher als Glockentürme. Ein diabolisches Spiel in schönsten Farben. Schwefelgeruch brannte in Nasen und Mündern. Was nicht hätte schlimmer kommen können, folgte unaufhaltsam: ein Ascheregen warf alles zu Boden, was sich noch hatte aufrecht halten können. Matrosen und Kapitäne kämpften darum, die Schiffe im Hafen aufs offene Meer zu treiben, um sich in die schützenden Arme des Ozeans zu werfen, bevor der Flammenregen Masten und Segel ergreifen und eine Flucht unmöglich machen würde. Wild entschlossen hackten sie auf die Vertäuungen ein, ungeachtet, dass sie sich dabei selbst und gegenseitig verletzten. Wie Vieh, das panikartig auseinanderprescht, versuchte jeder, der Katastrophe in letzter Sekunde zu entkommen. Mütter schleppten Kinder in Richtung Hafen, hinkend und weinend. Was war grausamer: ihre panischen Schreie oder der lautlose Tod?
Auf einem kleinen Hügel gegenüber der Stadt standen zwei Gestalten und beobachten das Spektakel jenseits der Meerenge. Gestützt auf einen Karren, auf dem vor kurzer Zeit noch etliche Fässer Dynamit geschmuggelt worden waren.
„Schade, um die Mädels in den schmucken Freudenhäusern!“, kommentierte der Große grinsend und spuckte braunen Schleim zu Boden. „Wirklich schade!“
„Ja, das ist wirklich ein hoher Preis!“ Der Kleine kratzte sich kauend an seinem unrasierten, dreckverkrusteten Hals und feixte. „Das tut mir wirklich sehr, sehr leid!